„Unsere Vision ist, die Immobilienwirtschaft vom Neubau zum Bestand zu transformieren. Wir sind davon überzeugt, dass Bauen im Bestand der neue Standard der Branche wird“, sagt Sarah Dungs, Vorstandsvorsitzende des Verbands für Bauen im Bestand e.V. und Geschäftsführerin der Greyfield Group. Im Webinar „Bauen im Bestand: Chancen nutzen, Herausforderungen meistern“ hat sie erklärt, wo eigentlich CO₂ in der Baubranche entsteht, wie sich Ressourcen schonen lassen und warum es ein neues Mindset für den Bestand braucht.
Die Immobilienbranche trägt eine enorme Verantwortung: Sie ist bundesweit für 47 Prozent der CO₂-Emissionen verantwortlich, verbraucht 517 Millionen Tonnen an Ressourcen pro Jahr und erzeugt 55 Prozent aller Abfallströme. 40 Hektar Boden werden täglich für neue Gebäude oder Straßen versiegelt1. Diese Zahlen zeigen deutlich, wie dringend ein Umdenken erforderlich ist – hin zu einer nachhaltigen Bauweise, die die begrenzten Ressourcen der Erde berücksichtigt.
Das CO₂-Budget – eine tickende Zeitbombe
Das Mercator Research Institute (MCC) veranschaulicht mit seiner CO₂-Uhr, wie viel Tonnen CO₂ wir noch verfügbar haben. Bei unserem derzeitigen Verbrauch und einem 2 Grad-Klimaziel haben wir aktuell noch „Budget“ für 22 Jahre. Mit einem 1,5-Grad-Klimaziel reduziert sich dieser Zeitraum rapide auf vier Jahre – das sollte uns zu denken geben und uns bewusst machen, dass wir hier gegen eine tickende Zeitbombe agieren.
Ein Vergleich mit der Corona-Pandemie macht das Problem greifbar: Damals mussten wir Maßnahmen ergreifen, damit das Infektionsrisiko so gering wie möglich gehalten wird und die Kapazitäten der Krankenhäuser nicht überlastet werden – „flatten the curve“ war das Ziel. Mit dem vorhandenen CO₂-Budget ist es genauso: Wir müssen jetzt sparsam damit umgehen, um Zeit bis zur CO₂-Neutralität zu gewinnen – siehe Simulation der CO₂-Uhr.
Warum Bestand statt Neubau?
Aber wo entsteht CO₂ in der Baubranche? Und darüber hinaus: Wie können wir Ressourcen schonen und Abfall und weitere Flächenversiegelung vermeiden? Die Sanierung und Nutzung des Bestands kann eine Antwort liefern.
In der Bau- und Immobilienbranche wird der Neubau häufig positiv bewertet, weil hier mit hohen Effizienzstandards gebaut wird und somit die Betriebsphase nachhaltiger ist als bei älteren Bauwerken. Auch die genutzten Energieträger produzieren weniger CO₂. So kommen neue Bauten dem Ziel der CO₂-Neutralität immer näher. Doch schon in der Herstellungsphase werden erhebliche Mengen an CO₂ verursacht, die in die Gesamtbetrachtung der Ökobilanz eines Gebäudes mit einfließen müssten. Betrachtet man die Herstellungsphase, fallen pro gebaute Quadratmeter beim Neubau etwa 800 bis 1.000 Kilogramm CO₂ an. Aber: CO₂-Emissionen sind wie ein begrenztes Geld-Budget. Wer Einkaufen geht, gibt Geld aus. Dieses ist in diesem Moment weg. Man sollte also auf sein verfügbares Budget aufpassen. Beim CO₂ ist es ebenso – es steht uns nicht unendlich zur Verfügung: Wenn man heute ein Gebäude neu baut, wird das CO₂-Budget sofort belastet.
Bei der Sanierung und dem Erhalt von Bestandsgebäuden fallen – je nach Maßnahmen – dagegen nur 100 bis 200 Kilogramm CO₂ pro gebautem Quadratemeter an. Selbst wenn Neubauten in der Betriebsphase effizienter sind, fallen 50 bis 75 Prozent des Lebenszyklus-CO₂ eines Gebäudes auf die Herstellungsphase. Das macht klar: Den Bestand zu nutzen und weiterzuentwickeln ist der nachhaltigste Weg – denn alles, was da ist, ist in unser CO₂-Budget schon einberechnet.
Der Bestand mag auf den ersten Blick nicht immer optimal sein in der Bewirtschaftungsphase, denn es kommen hier 15-55 kg CO₂ / m² hinzu. – man muss also eine Menge anpacken und umsetzen, um langfristig CO₂-Neutralität zu erreichen. Aber Abriss und Neubau kann nicht mehr die Lösung sein, weil wir dann unsere Kapazitäten ausreizen.
Ein neues Mindset für den Bestand
Es geht nicht darum, dass man gegen Neubau ist, sondern für den Bestand: Natürlich brauchen wir Neubau, aber er sollte auf soziale und gesellschaftliche Notwendigkeiten beschränkt sein – zum Beispiel Krankenhäuser, Schulen oder Wohnungen in Gebieten mit akutem Bedarf. Ein pauschales „Weiter-so“ kann sich unsere Branche nicht leisten. Die besten Ergebnisse erzielen wir, wenn wir vorhandene Gebäude erhalten und klug weiterentwickeln. Das erfordert ein radikales Umdenken: Weg von der klassischen „Neubau-Denke“, hin zu einer neuen Herangehensweise, die die Potenziale des Bestands in den Mittelpunkt stellt.
Damit verbunden sind sicherlich viele Herausforderungen: Niedrige Deckenhöhen, problematische Schadstoffe oder vermeintlich unbrauchbare Flächen, etwa in ehemaligen Fabriken. Wie kann man solche Gebäude für moderne Zwecke, etwa als Büros oder Wohnungen umnutzen? Jahrelang haben wir Neubau perfektioniert – und jetzt müssen wir auf einmal den Umgang mit dem Bestand lernen. Wie Albert Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Jahrelang wurde Neubau „gelernt“ und jetzt müssen wir die Fragen im Bestand „lösen“.
Der Wandel ist unvermeidlich
Es gibt viele Unternehmen, die ein Umdenken schon verpasst haben. Die Baubranche gilt mit 52 Prozent neben der Automobilbranche (57 Prozent) als besonders restrukturierungsbedürftig2: Wie schaffen wir es also, die Transformation des Bauens gemeinsam zu gestalten und die großen Herausforderungen zu lösen? Innovation in unserer Branche bedeutet nicht das nächste „iPhone“ zu entwickeln, sondern Bestandserhalt.
Das klassische Vorgehen des Neubaus lässt sich nicht eins zu eins auf den Bestand übertragen. Dafür braucht es aber neue Prozesse, Bereitschaft zur Umnutzung, innovative Tools und gute Zusammenarbeit.
Die Bau- und Immobilienbranche hat die Verantwortung und kann die Probleme der Gegenwart lösen – für unsere Nachwelt und unseren Planeten. Das Nachhaltigste, was wir tun können, ist, gemeinsam an Lösungen zu arbeiten und den Bestand als Chance zu begreifen. Denn am Ende des Tages gilt: Nachhaltigkeit beginnt mit dem Erhalt dessen, was wir bereits haben.
1 Umweltbundesamt, Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz, GlobalABC, BBSR 2020, dena 2021; Destatis 2022
2 Roland Berger Restrukturierungsstudie 2023
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